Perfektionsdruck: Sind die Erwartungen an Klimaaktivist*innen gerechtfertigt?
Klimaaktivist*innen setzen sich gegen den Klimawandel ein und fordern Regierungen und Individuen dazu auf, dringende Maßnahmen zu ergreifen, um die wachsende Umweltkrise zu bekämpfen. Während die Bewegung stetig an Aufmerksamkeit und Unterstützung gewinnt, wächst auch der Druck auf die Aktivist*innen. 2022 war das Unwort des Jahres „Klimaterrorismus“. Woher kommt diese Wahrnehmung und welche Erwartungshaltungen müssen Klimaaktivist*innen erfüllen?
Die Erwartungen sind hoch
Dass die Erwartungen an Klimaktivist*innen besonders hoch sind, lässt sich in der öffentlichen Debatte bereits seit dem Erstarken der Klimabewegung 2019 deutlich ablesen. Wir erinnern uns an engagierte Schüler*innen bei Fridays for Future, die sich schon vor Jahren in Talk-Shows dafür rechtfertigen mussten, dass Plastikflaschen nach einer Demonstration übrig geblieben sind oder dass viele der Jugendlichen Fast Fashion tragen würden. Der zugrundeliegende Gedanke: Das Verhalten der Klimaaktivist*innen ist von Doppelmoral geprägt. Erst wenn sie in ihrem persönlichen Leben auf allen Ebenen – Essen, Kleidung, Fliegen, Konsum – perfekt nachhaltig agieren, haben sie die gesellschaftliche Legitimation, sich durch Demonstrationen, Proteste oder zivilen Ungehorsam für das Klima einzusetzen.
2022 – das Jahr des „Klimaterrorismus“
Heute drehen sich Diskussionen seltener um Plastikflaschen oder individuelles Flugverhalten, doch der Druck auf Klimaaktivist*innen hat weiter zugenommen. Während es in den Pandemie-Jahren 2020 und 2021 etwas leiser um Klimaaktivismus wurde, haben 2022 viele aktivistische Gruppen ihre Aktionen wieder verstärkt und öffentlichkeitswirksam aufgenommen. Aktionen der Gruppe Letzte Generation, bei denen Aktivist*innen Glasscheiben in Museen mit Kartoffelbrei oder Tomatensuppe bewarfen, hinter denen sich bedeutende Kunstwerke befinden, wurden viel diskutiert und kritisiert. Straßenblockaden, bei denen sich die Aktivist*innen auf der Straße festklebten, lösten sogar noch heftigere Debatten aus. Die öffentliche Stimmung ist aufgeheizt. Es ist von „Klimaterrorismus“ die Rede, manch Politiker nimmt sogar den Begriff „Klima-RAF“ in den Mund.
Klimaterrorismus – ein Wort, das nicht nur Staatsfeindlichkeit suggeriert und gewaltfrei Protestierende mit Terrorist*innen gleichsetzt und damit diskreditiert, sondern auch den öffentlichen Diskurs verschiebt. Plötzlich stehen nicht mehr Klima-Inhalte und die Forderungen der Bewegung im Fokus. Stattdessen wird ausgiebig über die Form der Proteste diskutiert. Während sich vor Jahren die Vorwürfe noch hauptsächlich auf Inkonsequenz im privaten Leben der Aktivist*innen bezog, wird die Debatte nun also grundlegender: Was darf Klimaaktivismus überhaupt? Wann ist ziviler Ungehorsam gerechtfertigt? Diese Fragen diskutiert die Öffentlichkeit in Talk-Shows rauf und runter. Was sowohl beim Besprechen des Privatlebens von Aktivist*innen als auch beim Infragestellen der Legitimität der Protestformen zu kurz kommt: das Klima und wie es geschützt werden kann.
Klimaaktivist*innen sollen alles lösen
Als die Verteidigung des im Braunkohlegebiet liegenden Dorf Lützerath durch Klimaaktivist*innen im Januar 2023 ihren Höhepunkt erreicht, spitzt sich die Diskussion auf eine weitere Frage zu: Löst dieser Aktivismus die Klimakrise? Das Verhindern oder Stören des Abbaus der Kohle unter Lützerath scheint nicht mehr als Legitimation zu reichen. Im Podcast Lage der Nation beispielsweise machen die Hosts die Argumentationskette auf, dass ein Erhalt von Lützerath dank Europäischem Emissionshandel wahrscheinlich keinen Unterschied für die EU-weiten Emissionen machen würde und der vehemente Aktivismus vor Ort somit auch als unverhältnismäßig (zum tatsächlichen Nutzen) angesehen werden kann. Lokale Aktionsgruppen sollen im besten Fall also nicht nur Lützerath, Nordrhein-Westfalen und Deutschland in ihrem Aktivismus adressieren, sondern auch noch eine EU-weite – oder besser noch – globale Lösung mitliefern.
Wir landen also wieder beim gleichen Gedanken: Erst wenn Klimaaktivist*innen die allumfassende, perfekte Lösung für die Klimakrise liefern, erst dann ist ihr Aktivismus auch legitim. Aber wie gerechtfertigt sind diese Ansprüche an Klimaaktivist*innen eigentlich? Und ist das ihre Aufgabe?
Ziviler Ungehorsam als Bestandteil einer funktionierenden Demokratie
Ziviler Ungehorsam wird als ein Akt des gewaltfreien Protests verstanden, bei dem eine Person oder eine Gruppe bewusst und öffentlich gegen ein Gesetz oder eine politische Entscheidung verstößt, um auf eine Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen und Veränderungen herbeizuführen. Aktivist und Geschichtsprofessor Howard Zinn definiert den zivilen Ungehorsam als „überlegte und gezielte Übertretung von Gesetzen um dringender gesellschaftlicher Ziele willen“.
Laut des Philosophen Habermas kann ziviler Ungehorsam zudem Bestandteil eines demokratischen Rechtsstaats sein. Ein hohes Gut also, das davon zeugt, dass es in einem Staat möglich ist, durch Protest die Veränderung von Gesetzen einzufordern oder geltendes Recht in Frage zu stellen, wenn dieses ungerecht ist.
Die Besetzung und die Proteste in Lützerath machten genau das: Sie stellten in Frage, ob die Durchsetzung des Rechts, das RWE zugesprochen wurde, die Kohle abbauen zu dürfen, in Anbetracht der voranschreitenden Klimakrise tatsächlich gerecht ist. Die Aktivist*innen fanden sich in Gruppen zusammen, um ein dringendes, gesellschaftliches Ziel – das Abwenden von fossilen Brennstoffen – zu vertreten und auf eine öffentliche Agenda zu setzen.
Wir brauchen eine neue Wertschätzung
Aktivist*innen sind nicht dazu da, perfekt zu sein oder für alles eine Lösung präsentieren zu können. Vielmehr nehmen sie eine wichtige Rolle ein, die einem Staat oder einer Gesellschaft dabei helfen kann, sich kritisch zu reflektieren oder zu regulieren. Nicht einmal dann, wenn Aktivist*innen zusätzlich noch konkrete Lösungsvorschläge mitliefern, stößt das auf wertschätzende Öffentlichkeit. Wieso scheint es nie zu reichen?
Bestehendes zu hinterfragen, tut weh. Sich einzugestehen, dass manch politischer Deal Konzerngewinne und die Wirtschaft statt das Klima schützt, ist nicht einfach. Zu reflektieren, von welchen Interessengruppen man beeinflusst wird, ist nicht leicht. Es ist unbequem, sich zu fragen, wieso andere im Winter in Baumhäusern für Klimaziele ausharren, während man selbst im Warmen auf der Couch sitzt, aber doch eigentlich auch für Klimaschutz ist.
All diese Ambivalenzen sollten uns allerdings nicht daran hindern, eine Wertschätzung für Klimaaktivist*innen zu kultivieren. Nicht alle können oder wollen Klimaaktivist*innen sein oder werden. Nicht alle müssen es. Das ändert aber nichts daran, dass wir die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Klimaaktivismus anerkennen und wertschätzen können, statt sie zu diskreditieren. Dabei sollten wir uns daran erinnern, unsere Kritik nicht an die Überbringer der schlechten Nachrichten, sondern an die Verantwortlichen zu richten. Dann können wir – hoffentlich – in Zukunft auch wieder mehr über Inhalte sprechen, statt uns in Diskussionen über Protestformen zu verlieren.
Die Fashion Changers arbeiten daran, dass Mode als das starke Tool für gesellschaftliche Veränderung verstanden wird, das es ist. In ihrem Online-Magazin auf www.fashionchangers.de, bei Events, Paneldiskussionen und in dem Buch „Fashion Changers – Wie wir mit fairer Mode die Welt verändern können“ diskutieren und zeigen sie, wie das aussehen kann: Neuartige Materialien, kluge Schnitttechniken, feministisches Denken, transparente Lieferketten und kreative Business-Konzepte. Dabei scheuen sie sich nicht, den Finger in die Wunde zu legen und immer wieder neue, unbequeme Themen auf den Tisch zu holen.